Armutsbekämpfung braucht einen höheren Stellenwert
In Baden-Württemberg leben rund 1,7 Millionen Menschen unter der Armutsrisikoschwelle. Jedes 5. Kind ist von Armut bedroht. Gib ihnen deine Stimme.
Nach EU-Standard gilt als armutsgefährdet, wer in einem Haushalt wohnt, der weniger als 60 Prozent des mittleren Nettoeinkommens zur Verfügung hat. Dies sind im Südwesten 15,5 Prozent der Bürgerinnen und Bürger. Leben in diesen Haushalten auch Kinder, so sind automatisch auch sie von Armut betroffen.
In Baden-Württemberg waren laut Statistischem Landesamt 2018 besonders armutsgefährdet:
- Erwerbslose = 49,2 Prozent
- Alleinerziehende = 42,5 Prozent
- Paarfamilien mit drei und mehr Kindern = 29,3 Prozent
- Migranten = 30,9 Prozent
- 18- bis unter 25-Jährigen = 24,6 Prozent
Um auf die Entwicklung der Armutsgefährdung im Land reagieren zu können, fordern die Liga-Verbände die Fortschreibung des ersten Armuts- und Reichtumsberichts Baden-Württemberg. Das nächste Landesparlament muss diese umfassende Berichterstattung erneut beschließen.
Soziale Arbeit leistet einen wertvollen Beitrag, damit sich Armut nicht vererbt
Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren haben ein besonders hohes Armutsrisiko: 19,1 Prozent leben in Baden-Württemberg in relativer Armut. Das ist jedes 5. Kind! 2009 war es noch jedes 8. Kind.
Kinder, die in kinderreichen Familien oder in Familien mit Migrationshintergrund aufwachsen, sind besonders armutsgefährdet. Dasselbe gilt für Kinder, deren Eltern alleinerziehend oder langzeitarbeitslos sind. Bei jedem dritten Kind, das in Armut aufwächst, verfestigt sich diese im Lebenslauf!
Kinder aus armutsbetroffenen Haushalten sind von Geburt an nicht nur einem höheren materiellen Mangel ausgesetzt, sondern auch ihre Chancen auf Bildung, Gesundheit und sozialer wie kultureller Teilhabe sind eingeschränkt. Sie können diese ungleichen Rahmenbedingungen selbst nicht beeinflussen. Sie laufen Gefahr, die armen Erwachsenen von morgen zu werden. Sie starten somit ab Geburt mit „schlechteren Karten“ ins Leben.
Bildung eröffnet neue Perspektiven
Bildung ist der beste Schutz vor Armut und Ausgrenzung. Doch die Bildungschancen sind im Südwesten ungleich verteilt. Wie sonst nirgendwo in Europa hängen hier die Bildungschancen eines Kindes vom Bildungsstand seiner Eltern ab. In Baden-Württemberg besteht also ein unheilvoller enger Zusammenhang zwischen Armut und Bildungsverläufen.
Erfahren kleine Kinder schon in den ersten Lebensjahren „Bildung“, etwa in Form von Vorlesen oder auch sozialen Beziehungen, hilft dies für einen guten Start in die Schule. Daher bergen die Orte der frühkindlichen Bildung besonders für Kinder von Armut betroffener Familien ein großes Potenzial. Leider besuchen benachteiligte Kinder weniger häufig ein frühkindliches Betreuungsangebot wie eine Kita. Im weiteren Schulverlauf zeigt sich wiederum: Kinder aus einkommensschwachen Haushalten besuchen deutlich häufiger die Hauptschule und seltener das Gymnasium. Der Nachteil setzt sich bei der Berufsausbildung fort. Auch eine betriebliche oder berufsbezogene Ausbildung ist ein im wahrsten Sinn existentieller Teil von Bildung. Mit steigendem Qualifikationsniveau steigen die Erwerbs- und Verdienstchancen und das Armutsrisiko nimmt ab.
Sie hilft, über gesellschaftliche Hürden zu steigen. Sie stärkt gezielt.
Wenn jedes Kind und jeder Jugendliche seine Potenziale und Chancen auslebt, profitiert die gesamte Gesellschaft davon.
Damit benachteiligte Kinder und Jugendliche ihre Chancen wahrnehmen können, leistet Soziale Arbeit einen entscheidenden Beitrag. Denn werden die Startchancen von Kindern verbessert, wirkt sich das auf ihr gesamtes Leben nachhaltig positiv aus. Dies fängt schon mit der Beratung und Begleitung der Eltern an, solange die Kinder im Kleinkindalter oder womöglich noch gar nicht geboren sind. Frühe Hilfen und auch Schwangerschaftsberatungsstellen unterstützen und begleiten die (werdenden) Eltern und Mütter. Schulsozialarbeit oder aufsuchende Familienhilfe unterstützt die jungen Menschen im weiteren Verlauf. Die Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter stehen als reale Ansprechpartner für jegliche Themen bereit. Sie nehmen die junge Menschen ernst und fordern sie zugleich in ihrer Selbstverantwortung, damit sie lernen, ihr Leben eigenständig zu bewältigen. Allgemeine Sozialberatung und die Arbeit in den Stadtteilen tut ihr Übriges. „Soziale Arbeit ist der Schlüssel, wenn es darum geht, Kinder und Jugendliche zu befähigen. Die Angebote geben einen Anschub, damit die jungen Menschen einen guten Weg finden und selbstbestimmt ihr Leben führen können“, so Liga-Vorstandsvorsitzende Dr. Annette Holuscha-Uhlenbrock.
Die Corona-bedingten Lockdowns haben gezeigt: Benachteiligte Kinder und Jugendliche geraten durch die Beschränkungen noch mehr in die Isolation. Wenn Schule oder Hort geschlossen sind, wird Soziale Arbeit etwa in Form der aufsuchenden Familienhilfe sehr wichtig. Durchgehend bleiben die Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter für Notfälle im direkten Kontakt mit den Familien. Oft sind sie es, die psychische und soziale Probleme von Kindern erkennen und melden. „Kinder brauchen eine Anlaufstelle“, sagt Petra Willi, die die ambulante Jugendhilfe der Caritas im Landkreis Heilbronn leitet. Sie und ihre Kolleginnen unterstützen die Familien bei Alltagsproblemen und die Schüler während der Lockdowns vermehrt auch beim Lernen. Sie gehen mit den Kindern spazieren oder lesen ein Buch vor, um die Eltern zu entlasten, wenn etwa wegen beengter Wohnverhältnisse die Situation zu Hause angespannt ist.
Soziale Arbeit muss flächendeckend angeboten werden
Ob ein Kind oder Jugendlicher Unterstützung erfährt, darf nicht von seinem Wohnort abhängen. Das Netz an vielfältigen Angeboten muss flächendeckend im ganzen Land gut ausgebaut sein. Die Chancen eine Kindes dürfen nicht daran geknüpft sein, ob es zufällig in Mannheim, Tuttlingen oder Heilbronn wohnt. Die Liga-Vorstandsvorsitzende betont daher: „Um allen benachteiligten Kindern diese Unterstützung zur Verfügung zu stellen, brauchen wir in Baden-Württemberg gezielt eine Stärkung der Sozialen Arbeit mit ihren Beratungsangeboten und Diensten.“
Armut hat strukturelle Ursachen. Daher braucht es auf Landesebene eine Gesamtstrategie. Vor Ort muss eine armutssensible und armutspräventive Infrastruktur geschaffen und weiterentwickelt werden. Etwa durch den Ausbau von Präventionsketten und -netzwerken: An verschiedenen Standorten in Baden-Württemberg sorgen sie als erfolgreicher Ansatz für das gelingende Aufwachsen von Kindern. Auch stellt die Förderung qualifizierter Ganztagsangebote einen wichtigen Baustein dar: Zusammen mit der Schulsozialarbeit fördert der qualifizierte Ganztag die Bildungschancen von Kindern, dies ist seit vielen Jahren erwiesen. Ein flächendeckender Ausbau der Kinder- und Familienzentren (KiFaZ) gleicht präventiv wirtschaftliche Unterschiede in den Familien aus. Neben der frühen Förderung der Kinder werden hier auch die Eltern in ihrer Rolle gestärkt.
Jeder Mensch braucht eine Wohnung
Familien haben häufig Schwierigkeiten, geeigneten Wohnraum zu finden. Damit in Baden-Württemberg jede und jeder menschenwürdig wohnen kann, fehlen nach aktuellen Schätzungen derzeit 80.000 – 150.000 Wohnungen. Die gegenwärtige Situation belastet niedrige und mittlere Einkommen besonders schwer. Derzeit finden einkommensschwache Familien kaum bezahlbaren familiengerechten Wohnraum. In Freiburg, Konstanz und Stuttgart sind auf dem Wohnungsmarkt praktisch keine Angebote für von Armut bedrohte Familien. Die Entwicklungen auf dem Wohnungsmarkt führen dazu, dass sich Menschen entsprechend ihrer sozialen Lage trennen. Es ist aber wichtig, dass die Stadtteile und Quartiere durchmischt sind und nicht ärmere Menschen in gewisse Viertel gedrängt werden. Denn im gelingenden Zusammenleben in den Quartieren liegt ein wesentlicher Schlüssel, damit auch benachteiligte Menschen und Familien Teilhabechancen erhalten.